Walter Benjamin Kolleg

Wahnsinnige und Idioten

Donnerstag, 25.02.2021, 10:15 Uhr


© Keystone

Die «Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur» an der Universität Bern übernimmt im Frühlingssemester 2021 der Schweizer Autor Lukas Bärfuss. Seine wöchentliche Vorlesung trägt den Titel «Wahnsinnige und Idioten».

Veranstaltende: Walter Benjamin Kolleg | Friedrich Dürrenmatt Autorengastprofessur
Redner, Rednerin: Lukas Bärfuss, Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur
Datum: 25.02.2021
Uhrzeit: 10:15 - 12:00 Uhr
Ort: Online
via Zoom
Link auf Anfrage bei
livia.notter@wbkolleg.unibe.ch
Merkmale: Öffentlich
kostenlos

Wahnsinnige und Idioten

Der Wahnsinn spielt in der Literatur der Moderne eine Hauptrolle. Lu Xun, Andrei Bely, Virginia Woolf, Anne Sexton, Knut Hamsun, Marieluise Fleisser, Thomas Pynchon und auch Friedrich Dürrenmatt sind nur einige Namen, die in ihren Werken eine veritable Internationale des Wahnsinns vereinen. In der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft gibt es keinen Platz mehr für klassische Helden. Die Liebe ist profanisiert. Die wirtschaftliche Produktivität verlangt Pünktlichkeit, Fleiss und Genauigkeit - aber gewiss keinen Heroismus. Der industrialisierte Krieg verlangt vom Soldaten nur noch die korrekte Bedienung einer Maschine. In den Schützengräben ist eine individuelle Tat unerwünscht und letztlich absurd. Und da Gott tot ist, wird der Heilige obsolet. Mit seinem Dämonen ist nun jeder alleine. Auch Prophetinnen sind in der Moderne überflüssig - wer Visionen hat, den schickt man jetzt zum Arzt. Die Medizin kategorisiert ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die psychischen Krankheiten und trennt die Kranken von den Gesunden. Die Vertreter der Eugenik versuchen, sozial unerwünschtes Verhalten wie Alkoholismus, Prostitution und Vagantentum durch Internierung, Kastrierung und Sterilisierung, auszumerzen. Die Schweiz ist hier Avant- und Après-Garde. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden jetzt häufig selbst zu psychopathologischen Fällen, die Irrenanstalten zu literarischen Asylen und zur Endstation vieler Biografien. Später entdeckt die Gesellschaft, dass nicht jeder Wahnsinn unproduktiv sein muss. Die Psychopharmaka werden alltagstauglich, der Besuch beim Therapeuten gehört zum Lifestyle. Es gibt nun einen gesunden Narzissmus, und ein Burn-Out gehört ins CV eines Managers. Der Wahnsinn hat seinen Weg vom Rand wieder zurück ins Herz der Gesellschaft gefunden, er ist gewöhnlich und für die Literatur des einundzwanzigsten Jahrhundert wieder uninteressant geworden. Was ist nun aber der Stoff der Dichterinnen und Dichter heute? Und gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Bedeutungsverlust der Literatur und der Profanisierung und Banalisierung des Wahnsinns? 

In der Vorlesungsreihe "Wahnsinnige und Idioten" untersuchen wir mit der von Lukas Bärfuss entwickelten Methode der "Explorativen Lektüre" den Gegenstand diskursiv und anhand literarischer, wissenschaftlicher, künstlerischer und biografischer Artefakte.

Alle Menschen sind herzlich eingeladen!

Aufzeichnungen der Vorlesungen    

Lukas Bärfuss

Lukas Bärfuss, 1971 in Thun geboren, ist Dramatiker, Romancier und Essayist. Zu seinen Theatertexten gehören Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (2003), Öl (2009) und Malaga (2010). 2008 veröffentlichte Bärfuss das Romandebüt Hundert Tage, eine Auseinandersetzung mit der Rolle seines Heimatlandes beim Völkermord in Ruanda. Koala (2014) verbindet die individuelle Tragödie eines Suizids in der Schweiz mit der Geschichte der Kolonisierung Australiens. Im November 2020 erschien der neue Essayband, Die Krone der Schöpfung. Bei den Nibelungenfestspielen in Worms wird sein Drama zu Martin Luther uraufgeführt werden.