Pathographie und Poetologie: Literarische Reflexionen der Transplantationsmedizin
Leitung: Prof. Dr. Yahya Elsage; mit David Wagner und einem einleitenden Vortrag von
PD Dr. Irmela Krüger-Fürhoff
Die jüngere Literaturwissenschaft und Autobiographieforschung, aber auch Medizinethnologie und -soziologie beschäftigen sich intensiv mit dem Genre der „Pathographie“, also mit (auto-)biographischen Texten, die individuelle Erfahrungen mit Krankheit, Therapie, Genesung oder Sterben in den Mittelpunkt stellen. Dabei werden individuelle und gesellschaftliche Funktionen von Pathographien (Stabilisierung der eigenen Identität, Ergänzung der ‚schulmedizinischen‘ Sicht um eine ‚Patientenperspektive‘) ebenso analysiert wie wiederkehrende Erzählschemata und Metaphern. Dass Transplantationen innerhalb dieser Untersuchungen von ,literarischen Krankheitsgeschichten‘ bislang kaum beachtet werden, mag daran liegen, dass die Entnahme eines geschädigten Organs und seine Ersetzung durch ein Spenderorgan immunologische, körpertheoretische, identitätspolitische und ethische Fragen aufwerfen, die sich nicht in einem einfachen Schema von ‚Erkrankung‘ und ‚Gesundung‘ fassen lassen und entsprechend von literarischen Texten neue – möglicherweise auch poetisch spezifische – Darstellungsweisen erfordern. Der Vortrag formuliert einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Pathographie und Poetologie literarischer Transplantationsdarstellungen und versucht, diese für eine kursorische Lektüre von David Wagners Leben (2013) fruchtbar zu machen. Dieser Text, der das Erleben vor und nach einer Lebertransplantation aus der Perspektive eines Ich-Erzählers entfaltet, präsentiert sich zwar weder als Roman noch als autobiographisch, wird aber in Feuilleton und Öffentlichkeit durchaus so wahrgenommen. In der vorgeschlagenen Lektüre von Leben wird es u.a. um Hybridität und Imaginationen der ‚Vergemeinschaftung‘ gehen sowie um ästhetische Strategien des Zitierens.
Ausgehend von David Wagners Leben (2013) werden anschliesend Fragen diskutiert wie: die psychischen Probleme der Transplantationsmedizin und ihrer Fortschritte; das Krankenhaus als "totale Institution" (nach Erving Goffman); Schreiben als Selbsttherapie; Krankheit, Sterben und Genesung als Extremerfahrung in einem säkular-postreligiösen Kontext; Literatur und Krankheit in der longue durée der europäischen Literaturgeschichte und in der moyenne durée des 20. Jahrhunderts; die Religions- und Symbolgeschichte des Leberorgans.
Irmela Marei Krüger-Fürhoff; ist Germanistin und Vergleichende Literaturwissenschaftlerin und seit 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Zuvor war sie an der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und der Universität Bielefeld tätig und hat als Gastprofessorin an der University of Cincinnati und der Stanford University gelehrt. Sie forscht zur Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts und zu den Wechselwirkungen zwischen Literatur, Ästhetik, Medizin und Wissensgeschichte. Zu ihren Buchveröffentlichungen gehören: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals (2001), Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung (Mitherausgeberin, 2004), Engineering Life. Narrationen vom Menschen in Biomedizin, Kultur und Literatur (Mitherausgeberin, 2008) und Verpflanzungsgebiete. Wissenskulturen und Poetik der Transplantation (2012).
David Wagner, geboren 1971, veröffentlichte 2000 seinen Debütroman Meine nachtblaue Hose. Sein Roman Vier Äpfel stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2009. Der Autor wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Walter-Serner-Preis, der Dedalus-Preis für Neue Literatur und der Georg-K.-Glaser-Preis. 2013 erhielt David Wagner für Leben den Preis der Leipziger Buchmesse. David Wagner lebt in Berlin.